Januar 27

Productivity Anxiety, die Angst, nicht produktiv genug zu sein, und wie du sie ablegst

Hast du dich schon mal dabei ertappt, zu denken, dass du nicht genug leistest und dass die anderen um dich herum denken, du solltest mehr tun oder dich mehr anstrengen? Oder du denkst, du verbringst deine Zeit zu wenig produktiv und könntest die Zeit sinnvoller für die Arbeit nutzen.

Vielleicht hast du ja auch ein schlechtes Gewissen deinen Kolleg*innen gegenüber, weil die länger im Büro sind als du oder aus dem Home-Office heraus schon frühmorgens und am Abend E-Mails schreiben?

Dann kann es sein, dass du das erlebst, was man als Productivity Anxiety bezeichnet. Einen deutschen Begriff gibt es dafür noch nicht, übersetzt heißt es Produktivitätsangst.

Was versteht man unter Productivity Anxiety?

Productivity Anxiety ist das Gefühl, zu wenig zu leisten, nicht produktiv genug zu sein - und letztlich selbst nicht genug zu sein. Ganz egal, wie viele Stunden du arbeitest und wie viele Aufgaben du auf deiner ToDo-Liste abhakst. Schließlich kommen ständig neue Aufgaben dazu, die Liste wird immer länger statt kürzer.

Das führt zu Schuldgefühlen und Scham, wenn du nicht ständig hochproduktiv arbeitest, sondern Zeit auf Social Media oder mit Messenger-Nachrichten verdaddelst. Schuldgefühle gegenüber den Kolleg*innen und auch Schuldgefühle dir selbst gegenüber, weil du ja deine Lebenszeit verschwendest. Scham, weil du denkst, dass alle anderen viel produktiver und erfolgreicher sind - schließlich posten sie auf Instagram oder anderen Medien ja ständig, welche tollen Erfolge sie gerade erzielt haben und wie gut sie ihr Leben im Griff haben.

Ein weiterer Aspekt der Productivity Anxiety ist die Angst, zu scheitern oder abgehängt zu werden.

Woran merkt man, dass man Productivity Anxiety hat?

Neben den bereits beschriebenen Phänomenen weisen vor allem diese vier „Symptome“ auf Productivity Anxiety hin, insbesondere wenn sie in Kombination miteinander auftreten. Wie du mit jedem dieser Phänomene konstruktiver umgehen kannst, beschreibe ich im Anschluss.

1. Du gönnst dir keine Pausen oder Auszeiten

Ertappst du dich immer wieder dabei, am Ende des Arbeitstags oder mittags ganz verwundert darüber zu sein, wo die Zeit geblieben ist? Du hast fast ohne Pause durchgeackert, bist vielleicht mal kurz in die Küche und auf die Toilette gegangen, aber sonst warst du die ganze Zeit am Computer, am Smartphone oder Telefon?

Fällt es dir schwer, Pausen zu machen oder dir frei zu nehmen, wenn es dir gesundheitlich nicht so gut geht? Auch das Urlaub-Nehmen fällt dir schwer?

Productivity Anxiety Angst nicht produktiv genug zu sein

2. Du verknüpfst dein Selbstwertgefühl mit Leistung und der Meinung anderer

Vergleichst du dich oft mit anderen und mit dem, was sie leisten? Das ist besonders dann problematisch, wenn du nur Menschen als Maßstab nimmst, die (vermeintlich) mehr leisten als du. Denn das führt schnell dazu, dass du dich schlecht, unterlegen, ja minderwertig fühlst - und ganz schnell in einer Selbstabwertungsschleife feststeckst.

Überhaupt finde ich es problematisch, Leistung und den Wert eines Menschen zu verknüpfen. Denn dann landet man ganz schnell bei Aussagen wie „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ (Apostel Paulus im 2. Brief an die Thessalonicher).

Und was ist verkehrt daran, sich an der Meinung anderer zu orientieren? Grundsätzlich erst einmal nichts: Wir sind Gemeinschaftswesen. Dazugehören und Akzeptiert-Werden gehören zu unseren Grundbedürfnissen - kein Wunder also, dass uns die Meinung der Menschen um uns herum nicht egal ist.

Schwierig ist es dann, wenn wir unseren Selbstwert von der Meinung anderer über uns abhängig machen. Im Sinne von: Wenn die anderen mich mögen oder schätzen, dann bin ich gut genug - und nur dann. Das führt zu Daueranspannung (und den unten beschriebenen körperlichen Symptomen). Denn dann müssen wir uns ständig anstrengen, weil wir nie sicher sein können, dass die Meinung der anderen über uns auch weiter positiv bleibt. Wir müssen ständig leisten und liefern, um das Wohlwollen der anderen nicht zu verlieren.

3. Beschäftigt-Sein gibt dir das Gefühl, die Kontrolle zu haben

„Mit Arbeit beschäftigt sein“ - heißt das für dich, du wärst produktiv?

Geht es dir so: Wenn du beschäftigt, also aktiv bist, denkst du, du hättest die Dinge im Griff. Kennst du den Gedanken: Wenn ich xy tue oder erreiche, dann bin ich gut genug, dann bin ich OK, dann mögen mich die anderen. Das ist etwas, was viele Menschen sehr früh in der Kindheit gelernt haben: Sie wurden gelobt, wenn sie etwas richtig gemacht haben, wenn sie etwas (zum ersten Mal) geschafft haben. Oder sie haben Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie etwas Besonderes gemacht oder etwas für jemand anderen getan haben. Im Umkehrschluss haben sie aber auch gelernt: Ich bin nicht gut oder liebenswert genug. Nur wenn ich etwas leiste, werde ich gemocht, bekomme ich Anerkennung.

Vielleicht ist es auch so: Manche Menschen lenken sich durch Beschäftigt-Sein oft einfach ab, um unangenehme Gefühle nicht spüren zu müssen. Möglicherweise haben sie gelernt, dass es besser ist, unangenehme Gefühle nicht zu spüren. Oder dass es besser ist, vernünftig zu sein, statt sich auf Gefühle einzulassen. Dass sie unbedingt die Kontrolle über unsere Gefühle haben müssen (weil sie sonst davon überwältigt werden könnten).

Nicht wenige haben auch unerfreuliche Erfahrungen gemacht, wenn sie Gefühle gezeigt haben: Sie wurden ausgelacht, wenn sie weinten; sie wurden enttäuscht oder vielleicht auch bestraft, wenn sie sich freuten. So lernt man, Gefühle nicht zu zeigen und am besten ganz zu unterdrücken.

Arbeiten, Beschäftigt-Sein ist ein gutes Mittel, Gefühle nicht wahrzunehmen.

Das Problem bei dem Ganzen: Man muss sich die ganze Zeit über beschäftigt halten, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

Productivity Anxiety körperliche Symptome

4. Du hast körperliche Symptome

Typische körperliche und mentale Symptome, die bei Productivity Anxiety (aber natürlich nicht nur da) auftreten können, sind:

  • Erschöpfung, Müdigkeit
  • geringer Antrieb
  • geringere Leistungsfähigkeit
  • Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, Verdauungsprobleme
  • Schlafstörungen

Productivity Anxiety: wie du diese Angst ablegst

„Gegen“ die ersten drei Phänomene kannst du aktiv etwas tun; wenn du dich um sie kümmerst, werden auch die körperlichen Symptome nachlassen.

Immer wieder bewusst Pausen einlegen

Untersuchungen zufolge brauchen unser Körper und unser Geist nach 50 bis 60 Minuten konzentrierter Arbeit eine kurze Pause. Unser Gehirn kann „nur“ etwa 60 Minuten hochaktiv sein, dann wechselt es für etwa 15 Minuten in einen Zustand niedriger Aktivität.

Das heißt: Du solltest spätestens nach einer Stunde geistig anspruchsvoller Tätigkeit eine Pause einlegen. Und das gilt auch für weniger anspruchsvolle Tätigkeiten wie Surfen im Web oder Herumzappen in Social Media.

Pause heißt:

  • Bewege dich weg vom Schreibtisch, gehe idealerweise kurz an die frische Luft (oder mach das Fenster auf).
  • Trinke etwas, iss etwas Gesundes (keinen Schokoriegel oder Ähnliches).
  • Schnaufe durch, strecke und dehne den Körper.
  • Schau einfach in den Himmel - das entspannt die Augen und weitet den Blick (am Computer ist der Blick ja auf das kleine Fenster vor dir fokussiert). Oder meditiere kurz.
  • Ein Gespräch mit einem Menschen aus Fleisch und Blut kann auch sehr entspannen.
  • Und ganz wichtig: Finger weg von Social Media, von E-Mails und von Messenger-Diensten. Mach Pause von allem Digitalen.

Falls es dir schwerfällt, an die Pausen zu denken, stell dir einen Timer.

Productivity Anxiety Pausen machen

Realistische Erwartungen und Ziele

Productivity Anxiety und unrealistische Erwartungen und Ziele haben sehr viel miteinander zu tun. Natürlich ist es grundsätzlich nicht schlecht, sich Ziele zu setzen, bei denen man sich strecken und anstrengen muss - so kann man mit den Zielen wachsen. Wenn die Ziele aber so ehrgeizig sind, dass du fast zwangsläufig scheitern musst, ist das kontraproduktiv.

Zu einer realistischeren Zielformulierung kommst du, wenn du dir Frage wie die folgenden stellst:

  • Wieso setze ich mir dieses Ziel (und kein kleineres)?
  • Kommt die Motivation aus mir heraus (=intrinsische Motivation) oder motiviert mich etwas im Außen? Vielleicht ist es ja auch keine Motivation, sondern Druck von Außen.
  • Wieso will ich in diesem Bereich mehr lernen oder wachsen?
  • Ist dieses Ziel überhaupt erreichbar - angesichts meiner derzeitigen Arbeitsauslastung, der derzeitigen Projekte und Verpflichtungen und meiner privaten Situation?

Wenn du ein Ziel erreicht hast, nimm dir die Zeit, das zu feiern. Stürze dich nicht gleich in die nächste Aufgabe, sondern nimm dir Zeit, dich über das Geschaffte zu freuen und genieße dieses Gefühl.

Nimm dir außerdem Zeit, das abgeschlossene Projekt zu reflektieren - auch bei ganz kleinen Vorhaben:

  • Rufe dir noch einmal „dein Warum“ für das Vorhaben/Projekt ins Gedächtnis. Wieso hattest du dir gerade dieses Ziel gesetzt?
  • Was ist gut gelaufen? Was hast du gut gemacht?
  • Was hast du am meisten genossen?
  • Welche Hindernisse hast du überwunden?
  • Was hast du dabei gelernt?
  • Was hast du über dich gelernt?

Insgesamt ist es sehr hilfreich, immer wieder innerlich einen Schritt zurückzutreten und zu überprüfen, womit und wie du deine Zeit verbringst:

  • Musst du viele Ãœberstunden machen (oder meinst du zu müssen), weil du viel Zeit in Meetings oder andere Aktivitäten steckst, die nicht direkt mit deinen Aufgaben/Projekten zu tun haben?
  • Wie passt dein Engagement für eine Aufgabe zu ihrer Wichtigkeit? Heißt: Steckst du viel Energie in Aufgaben, die letztlich nicht so wichtig sind?
  • Wie hältst du es mit deiner ToDo-Liste? Nimmst du ständig neue Aufgaben an, auch wenn die bisherigen noch nicht erledigt sind? Oder müssen erst zwei oder mehr Aufgaben abgehakt sein, bevor eine neue auf die Liste kommt? Oder ...?
  • Wie oft sagst du Nein, wenn du gefragt wirst, ob du Aufgabe x übernehmen kannst? Delegierst du Aufgaben, wenn das sinnvoll ist?

Achtsamkeit

Ein gutes Mittel gegen toxische Geschäftigkeit sind Achtsamkeitspraktiken. Sie sind eine gute Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Außerdem schaffst du dir damit innerlich Raum, um (wieder) wahrzunehmen, wie es dir geht, wie es sich in dir anfühlt. Dann bist du auch in der Lage, aus dem Hamsterrad auszusteigen und etwas an der Situation zu ändern.

Productivity Anxiety Pausen machen

Kontrolle loslassen, offen werden für Neues/Unbekanntes

Korrekt müsste es heißen: Lass die Illusion los, Kontrolle über Gefühle oder ganz allgemein Kontrolle über das haben zu können, was passiert.

Kontrolle über Gefühle hast du nicht einmal dann, wenn du versuchst, sie komplett abzuschalten oder wegzudrücken. Zudem ist der Preis extrem hoch: Wenn du versuchst, deine Gefühle so weit herunterzuregeln, dass du zum Beispiel Wut oder Traurigkeit nicht mehr spürst, spürst du auch erwünschte Gefühle wie Freude und Lust nur mehr ganz schwach.

Offen werden für Unbekanntes bedeutet: Anerkennen, dass wir in einer Welt leben, die uns ständig mit Neuem, Unerwartetem konfrontiert. Wir können uns dagegen sperren - das Unerwartete geschieht trotzdem. Oder wir können uns darauf einstellen, offen werden – vielleicht sogar neugierig auf das, was passiert. Und mit der Zeit Vertrauen darauf entwickeln, dass wir bisher mit dem Leben zurechtgekommen sind und das auch in Zukunft irgendwie schon hinbekommen werden.

Selbstakzeptanz

Nach meiner Erfahrung ist Selbstakzeptanz der Schlüssel zu mehr Zufriedenheit und die Grundlage für Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Selbstakzeptanz bedeutet: Sich so sein lassen, wie man ist mitsamt allen (vermeintlichen und tatsächlichen) Schwächen und Macken.

Mir ist bewusst: Das alles ist leichter gesagt als getan, insbesondere das Loslassen der Kontrolle und Selbstakzeptanz. Aber es ist machbar – und du wirst sehen, dass du immer mehr Boden unter den Füßen gewinnst, wenn du dich Schritt für Schritt darauf einlässt.

Selbstakzeptanz, Kontrolle loslassen:
Wie soll das gehen?

Wenn du jetzt denkst: Leichter gesagt als getan?
Dann empfehle ich dir mein Coachingprogramm
"Gut genug statt Selbstzweifel"


Bildquellen

Das Titelfoto stammt von Carl Heyerdahl, die übrigen von Jon Tyson, Karl Chor, Towfiqu barbhuiya und Katie Moum (alle via Unsplash).


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